1905 baute mein Urgroßvater, der Buchbinder Konrad Nussel, das Haus in der Schweinauer Str. 29 für insgesamt 42.000 Goldmark. Bei seinem Onkel hatte er sich dafür hoch verschulden müssen - Bausparverträge oder Hypotheken bei Banken waren damals unbekannt oder zumindest nicht üblich.

Bild: Auszug aus einem Mietbüchlein von 1939
Auszug aus einem Mietbüchlein von 1939
In einem Mietbüchlein aus dem Jahr 1937 ist quittiert, dass ein Mieter für seine 3-Zimmer-Wohnung 15 Reichsmark monatliche Miete entrichtete.
Im Oktober gab es eine Mieterhöhung um 67% (!) auf 25 Reichsmark.

In den Zimmern herrschte dichtes Gedränge: In den 2-Zimmer-Wohnungen wohnten Ehepaare mit bis zu 2 Kindern.
In seiner 3-Zimmer-Wohnung im 1. Stock rechts lebte Konrad Nussel mit seiner Frau. Das Schlafzimmer teilten sie sich mit ihrer mittlerweile erwachsenen Tochter Margarete. Sohn Peter hatte geheiratet und lebte mit seiner Frau Luise und seiner kleinen Tochter Renate bei seinen Eltern im Kinderzimmer. 5 Erwachsene und 1 Kleinkind teilten sich so eine 52qm große 3-Zimmer-Wohnung.
Für die damalige Zeit waren das jedoch ganz normale Verhältnisse.

Unten rechts befand sich ein Laden. Konrad Nussel vertrieb darin Schnitt- und Kurzwaren, sowie Strümpfe, Socken, Schürzen und ähnliches.

1940 gab er den Laden jedoch auf und ließ ihn zu einer Wohnung umbauen. Nun endlich konnte Peter mit Familie aus der elterlichen Wohnung vom 1. Stock ins Erdgeschoss umziehen.

Bild: der Hof 1940, die 1-jährige Renate im Laufstall
der Hof 1940, die 1-jährige Renate im Laufstall
Im Bild: Die 1-jährige Renate in ihrem Laufstall im Hof. Der Boden war noch unbepflastert, der Sockel des Hauses ist bereits derart brüchig, so dass schon mehr blanker Stein als Verputz zu sehen ist.

Als der Krieg kam prüfte man die Brandschutzmauern des Hauses und richtete aufgrund dessen stabilen Bauweise einen Luftschutzraum im Keller ein. Dort wurden Durchgänge in jede Zwischenwand gebrochen, um Notausgänge zu schaffen für den Fall, dass die Zugänge durch Beschuss verschüttet wurden. Bänke wurden aufgestellt. Die Sirene für den Fliegeralarm befand sich schräg gegenüber des Hauses auf dem Dach der Schule. Heulte sie auf, verschanzten sich die Bewohner des Hauses zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Kind und Kegel im Keller.

In allen Ecken und Etagen des Hauses standen stets mit Wasser gefüllte Wannen, Bottiche und Eimer. Eine Phosphorbombe (oder Teile von ihr) traf auch in einer Bombennacht das Dach, doch die Hausbewohner konnten den Brand löschen, bevor größerer Schaden entstand.

Bild: 1945, die Kinder spielen im Hof Soldaten
1945, die Kinder spielen im Hof Soldaten
Im Bild: Im Eck des Hofes, direkt unter dem Küchenfenster der 1-Zimmer-Wohnung, stand ein Verschlag mit einem alten Leiterwagen, einem Hackstock und gehacktem Brennholz. Die Kinder hatten sich Holzlatten über die Schulter geworfen und spielten im Hof "Soldaten".

1945 - gegenüber des Hauses befand sich völlig freies Feld - da rückten die Amerikaner an und nahmen unter Beschuss, was sich bewegte. Ein Geschoss zerstörte das Wohnzimmer im 1. Stock und durchschlug die Wand zum Flur. Margarete Nussel, die sich einen Moment vorher noch darin aufhielt, war jedoch durch schnellste Flucht unverletzt davongekommen.

1946 ging die Miete wieder drastisch zurück auf 15 Mark. Im Gegensatz zu anderen Gebäuden in Nürnberg waren die Kriegsbeschädigungen am Haus reine Bagatellen und auch die Bewohner hatten die Bombennächte von 1945 glimpflich überstanden.

Armut und Not beherrschten das Leben.

Bild: in der Tür stehen Konrad und Grete Nussel mit einer Freundin
in der Tür stehen Konrad und Grete Nussel mit einer Freundin
In Ermangelung von Toilettenpapier schnitten sich die Leute alte Zeitungen zurecht. Noch immer gab es im Haus "Plumpsklos" und im Hof die dazugehörige Grube, die verschlossen war und nur von Bediensteten der Stadt geöffnet werden konnte. Wenn im Sommer die Maden und Würmer bis rauf in die Klos der Wohnungen gekrochen kamen, schüttete man mit Wucht mal wieder eine Wanne Spülwasser vom letzten Abwasch in diese Kloake, so dass wenigstens der gröbste Dreck nach unten gespült wurde. Ein Deckel auf dem Holzklo linderte die Belästigung durch den pestilenzartigen Gestank.

Alle zwei Wochen kamen die "Dullnraamer" mit ihrem Wagen, verlegten ihre dicken Schläuche durch den Hausgang bis in den Hof und pumpten die Grube aus. Danach bauten sie ihre je ca. 3m langen Schlauchteile wieder auseinander, um sie im nächsten Haus wieder aufzubauen. Beim Auseinanderbau entfielen den Schläuchen natürlich Reste von Fäkalien, um die sich die derben Kerle nicht weiters scherten. Wer im Parterre soeben die Hausordnung hatte, musste hier für Sauberkeit sorgen.

Bild: Konrad, Grete und die Freundin am Fenster
Konrad, Grete und die Freundin am Fenster
Der Hausherr glänzte durch eine maßlose Arroganz, die man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann: Er soll seinen Mietern gerne mit den Worten "Ihnen werd ich schon lernen, wie man richtig putzt!" den Putzeimer umgetreten haben. Die Hausfrau musste dann das verschüttete Putzwasser unter seinem strengen Blick wieder aufwischen.

Groschenweise wurde nun die Miete erhöht. Im August 1949 zahlte der Mieter nun 15,60 Mark.

Eine weitere Mieterhöhung auf 17 Mark 15 gab es im Oktober 1952.

Sprunghaft erhöhte sich die Miete im April 1954 von 17,15 DM auf 38,50 DM, was das 2,24-fache bzw. gut 124% Erhöhung (!) ausmacht. Das mag vermutlich mit einer Währungsreform oder ähnlichem in Zusammenhang gestanden sein.

Bild: Mieterhöhung 1958
Mieterhöhung 1958
Im Jahr 1958 lag die Miete für die 3-Zimmer-Wohnung bei 48 DM. Diese drastische Erhöhung der Miete hatte allerdings auch eine gute Begründung: Der Einbau von Spülklosetts und der Mehraufwand des Wasserverbrauchs sollte dadurch ausgeglichen werden.

Noch immer war von Duschen oder gar Bädern nicht zu träumen: ein Waschbecken der Größe 30 x 40cm in der Küche war die einzige Wasserquelle der Wohnung. Dicke Kohleherde, schwarze, eiserne Gestänge mit emaillierter Verkleidung, standen noch in den Küchen. Neben der Backröhre waren sie mit sogenannten "Fischchen" versehen, blechernen Bottichen voller Wasser. Das Wasser wurde beim Betrieb des Herdes automatisch mitgekocht. So sorgte man für genügend Luftfeuchtigkeit in der durch ständige Kohlebeheizung völlig trockenen Küche, auch konnte man sich dort mit Warmwasser versorgen.
Das Geschirr wurde in Spülwannen abgewaschen. Diese waren im Küchentisch versenkt und konnten mittels eines rollbaren Unterbaus aus dem Tisch hervorgezogen werden. Abflüsse oder Stöpsel gab es daran nicht. Nach dem Abspülen schleppte man die vollen Spülwannen zum Waschbecken und kippte sie darin aus - nicht zu fest und auch nicht alles auf einmal, sonst schwappte alles über.

1962 betrug die monatliche Gesamteinnahme der Mieten für alle 8 Wohnungen im Haus satte 302,05 DM. Die Grundsteuer betrug vierteljährlich 85,62 DM, der Kaminkehrer verlangte 14,14 DM, monatlich verbrauchte das gesamte Haus für 28,65 DM Wasser, die monatliche Stromrechnung für Treppenbeleuchtung und Klingelanlage belief sich auf 10,80 DM, 1 Zentner Zement und 2 Eimer Sand für Ausbesserungsarbeiten schlugen mit 4,90 DM zu Buche und von dem, was übrig blieb, wurden auch noch 5,00 DM für Kirchensteuer entrichtet.

Bild: 1962, ich im Hof
1962, ich im Hof
Der Hof war mittlerweile gepflastert, sah aber ansonsten nicht viel anders aus als vor 20 Jahren (das Baby auf dem Foto bin übrigens ich Bild: Smilie).
Hinten im Eck stapelte sich noch immer das Brennholz; in einer Remise im anderen Eck wurde jede Menge Gerümpel aufbewahrt: Hacken, Leiterwagen, Bretter und Werkzeug.

1968 starb der Hausherr Konrad Nussel und vererbte das Haus seinen beiden Kindern Peter und Margarete Nussel. Mieterhöhungen wurden den Mietern nun durch derartige Wurstzettel im Briefkasten mitgeteilt.

Bild: Mieterhöhung 1968
Mieterhöhung 1968

 
Nun wurde mit umfassenden Renovierungsarbeiten begonnen. Die alten Fenster mit den gedrechselten Querstreben wurden ersetzt durch zeitgemäße Doppelfenster, die man sogar kippen konnte. Bisher bestanden die Fenster aus einfachen Flügelfenstern. Weitere Fensterangeln befanden sich weiter außen an der Innenseite der Fensteröffnungen: Dort wurden im Herbst die Winterfenster eingehängt, die den Sommer über auf dem Dachboden gelagert waren. Während des Sommers hingen an deren Stelle sogenannte "Ameisengitter", sehr feinmaschige Drahtverbaus, die die Insekten draußen halten sollten.

Die Renovierung der Fenster übernahm der Hausherr, den Einbau der Fensterbrettchen in den Räumen mussten jedoch die Mieter selber zahlen (!). Die sparsame Frau Meier im 2. Stock rechts wollte dafür das nötige Geld nicht berappen, daher wurden in ihrer Wohnung auch nicht die üblichen Fensterbrettchen eingebaut, sondern wesentlich schmalere und billigere. Frau Meier ist längst schon gestorben, aber die schmalen Fensterbrettchen sind noch immer in der 3-Zimmer-Wohnung im 2. Stock.

1973 starb das alte Fräulein Margarete Nussel.
Ihrem Bruder, Peter Nussel, gehörte das Haus nun ganz alleine.

Bild: Renovierung, Peter Nussel baut neue Türen ein
Renovierung, Peter Nussel baut neue Türen ein
Peter Nussel, der zu der Zeit bereits in Frührente gegangen war, bastelte nun am Haus, was ging: Hier baut er gerade die neuen Türen ein.

Sobald ein Mieter auszog, wurde die Wohnung mit einem Bad ausgebaut. Um den Raum hierfür zu schaffen, musste manche Wand versetzt werden.
Sämtliche Gasgeräte wurden entfernt, so dass die Gasleitung komplett abgestellt werden konnte. Der Betrieb von Öfen und Herden wurde auf Strom umgestellt.

Auch außerhalb des Hauses verbesserte sich die Qualität: Die U-Bahn wurde gebaut und die Schweinauer Straße, bisher eine in beide Richtungen befahrene Hauptverkehrsader wurde für die Zeit des U-Bahn-Baus wegen der Baugrube völlig gesperrt. Nach Fertigstellung der U-Bahn wurde die Schweinauer Straße streckenweise zur Spielstraße und teilweise sogar nur für Fußgänger zugänglich gemacht, was die Wohnqualität um Längen erhöhte.

Obwohl eine ziemliche Wohnungsnot herrschte und Interessenten schon früh auf der Straße Schlange standen um sich auf ein Mietinserat zu melden, blieben die Mieten sehr human und niedrig.

Im Januar 1974 betrug die monatliche Gesamteinnahme der Miete für alle 8 Wohnungen im Haus 641,72 DM. Dagegen standen folgende Ausgaben:

Ein Inserat zwecks Vermietung in den Nordbayerischen Anzeiger kostete 15,21 DM, die EWAG verlangte einen monatlichen Abschlag von 33,30 DM, des weiteren für Gasversorgung monatlich 35,52 DM, ein Namensschildchen für die Wohnungstür kostete 5,00 DM, der Kaminkehrer verlangte 49,77 DM, ein Ofenblech wurde für 6,70 DM ausgetauscht, die Brandversicherung berechnete jährlich 73,70 DM, die Männer von der Müllabfuhr erhielten als Weihnachtsgeld ganze 2,00 DM und eine Putzfrau erledigte für 15,00 DM die große Hausordnung.

1978 starb auch Peter Nussel. Seine Frau Luise erbte nun das Haus. Weiterhin wurden andauernd Wohnungen renoviert und ausgebaut, wobei es sich um langwierige und kostspielige Angelegenheiten handelte. Die letzte Wohnung, die 2-Zimmer-Wohnung im 2. Stock, hat bis heute nur eine Dusche.

Der Schuppen und die Remise im Hof wurden abgerissen, die Fassade und Dachrinne wurde gestrichen und Teile des Dachs wurden ausgebessert und neu gedeckt.

22 Jahre war das Haus im Besitz von Luise Nussel.

Seit 1998, als meine Mutter starb, bin ich nun hier eingezogen, wohnte im 2. Stock links und meine Oma im 2. Stock rechts. Seitdem teilte ich mir mit meinem Vater die Dinge rund ums Haus: Er sorgte für die handwerklichen Sachen und ich für die Mieter, die Organisation, den Papierkram, den Einkauf für die Oma und die alltäglichen Dinge, die in Omas Leben so anfielen, z.B. die Erschließung moderner Dimensionen: meine Oma begeistert beim Surfen im Netz!

Bild: Oma beim Surfen Bild: Oma beim Surfen
Na? Hast du dich wohl im Chat als 20jähriges Mädchen ausgegeben, was? Ertappt! ;-)

 
Im Jahr 2000 zog meine Großmutter Luise Nussel, 90jährig, in ein Seniorenheim und überschrieb das Haus mir.

Leider habe ich jedoch eine kleine Schwester, der eine Hälfte des Hauses erbrechtlich zustand. Um meiner Schwester ihren Anteil auszahlen zu können, musste ich auf das Haus eine Hypothek aufnehmen. Alleine nur die Beantragung dieser Hypothek kostete € 450,00!

Bis zum Jahr 2010 zahle ich nun Raten von monatlich € 1.172,73.
Vierteljährlich leiste ich Einkommensteuervorauszahlungen von € 759,00,
und um das zu errechnen, zahle ich 1 x im Jahr beim Steuerberater ca. € 250,00.
Ebenfalls vierteljährlich wird die Grundsteuer von € 790,73 fällig.
Für die Putzfrau trete ich monatlich für die Erledigung der Hausordnung € 132,94 ab
und für Strom und Wasser € 75,00. Dies reicht aber selten, denn im Jahr 2002 musste ich bei der Jahresendabrechnung noch € 459,71 nachzahlen.
Für jährlich € 189,00 fegt die Fa. Arnold im Winter den Schnee fort und streut Sand.
Versicherungen wollen von mir im Jahr auch noch € 167,52.
Da nun nichts mehr übrig bleibt, zahle ich Reparaturen, die anfallen, von meinem Gehalt, sofern ich sie nicht selber durchführen kann.

Ich kann mir grad noch den Unterhalt dieser Homepage leisten! :-(



Erstveröffentlichung: 09.06.2002

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